Interview | Prof. Dr. Martin Gersch, Freie Universität Berlin School of Business & Economics Department of Information Systems, Professor of Business Administration, Health-X Innovation Hub

Vernetzt, übergreifend und jederzeit verfügbar – Die Zukunft der Gesundheitsdaten

 

Prof. Dr. Martin Gersch hat eine Professur für Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin, darüber hinaus vertritt er unter anderem die FU Berlin im Lenkungskreis des Leuchtturmprojekts „Health-X dataLOFT“. Bei dem Projekt werden zusammen mit Partnern auch aus der Hauptstadtregion wie etwa der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der Bundesdruckerei und dem Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering Lösungen entwickelt, um einen „Bürgerzentrierten Gesundheitsdatenraum“ auf europäischer Ebene zu schaffen. Die Arbeitsgruppe Gersch an der FU Berlin fokussiert sich in diesem Rahmen auf die Unterstützung der ökonomischen Verwertung und nachhaltigen Nutzung dieses entstehenden gemeinsamen Datenraums. Wir haben mit Prof. Gersch über den Fortgang des Projektes und die darin liegenden Möglichkeiten gesprochen.

Im April 2024 wurde die Verordnung zum Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) durch die EU-Kommission konsentiert. Könnten Sie kurz für unsere Leserschaft einordnen, welche Rolle in diesem Zusammenhang das Projekt Health-X dataLOFT und insbesondere das von Ihrer Arbeitsgruppe bearbeitete Teilprojekt Health-X Innovation Hub spielen?

 

Der EHDS ist als EU-Verordnung ein Riesenschritt in Richtung europäische Datenökonomie, aber eben auch nur ein regulatorischer Rahmen. Das Projekt Health-X dataLOFT hat nun einen konkreten Techstack* entwickelt, mit dem zentrale Vorgaben des EHDS auch tatsächlich realisiert werden können, zum Beispiel „sichere Verarbeitungsumgebungen (sVU)“ als Voraussetzungen für die Verwendung von Gesundheitsdaten. Der Health-X Innovation Hub hat eine langfristig tragfähige Struktur zur dauerhaften Nutzung und Weiterentwicklung des Techstacks entwickelt und schon während der Projektlaufzeit innovative Unternehmen und Start-ups eingeladen, die Ergebnisse auszuprobieren und sich bereits jetzt EHDS-konform aufzustellen.

*Techstack, auch als Technology Stack oder Technologie-Stack bezeichnet, meint alle Technologien, die zur Entwicklung einer Anwendung verwendet werden – beispielsweise Programmiersprachen, Frameworks, Datenbanken und Tools.

Ein Ziel des Projekts ist die Unterstützung der ökonomischen Verwertung des entstehenden föderierten Datenraums. Welche konkreten Tools und Services werden in diesem Zusammenhang für Unternehmen/Gründer angeboten und stehen diese auch nach Projektende zur Verfügung?

Während der Projektlaufzeit haben wir Unternehmen und Start-ups aktiv bei der Entwicklung von EHDS-konformen Lösungen auf Basis des Techstacks von Health-X begleitet, zum Teil sogar als Innovationspreisträger aus Projektmittel für bis zu einem Jahr mit 75.000 € gefördert. Hierzu gehört auch die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle für die zukünftige europäische Datenökonomie. Die entstehende Community hat Anfang 2024 den „European Health Data Alliance e.V.“ gegründet, um so die weitere Skalierung zu ermöglichen, explizit über das Projektende hinaus. Hierzu gehört auch die Standardisierung und Realisierung notwendiger Infrastruktur-, Management- und Daten-Services, die für die föderierten Datenräume angeboten werden.

Im kürzlich von HealthCapital organisierten „Barcamp Health Innovation“ haben Sie und Ihre Kollegen mit dem Publikum anhand des Beispiels der Data Wallet App diskutiert, ob man durch einen föderierten Datenraum Patient:innen in den Mittelpunkt der Patient Journey bringen kann. Welches Fazit konnte die Runde ziehen?

Wir sind es schon gewohnt, dass wir mit der Data Wallet App große Aufmerksamkeit erzielen, da wir damit tatsächlich „Patient:innen-Zentrierung und Datensouveränität by Design“ anbieten. Jede:r Bürger:in hat mit einem persönlichen Dashboard Transparenz und Verfügung über seine/ihre Gesundheitsdaten. Neben notwendigen Zustimmungslösungen können aber auch Incentivierungsmodelle umgesetzt werden, vom Dateneinkommen bis zu neusten Studienergebnissen aus vorherigen Datenspenden. Gemäß EHDS wird es sogar eine Ordnungswidrigkeit sein, wenn ein Akteur entlang der Patient Journey nicht willens oder technisch in der Lage ist, jederzeit der Patient:in ihre/seine Daten in digitaler, maschinenlesbarer und interoperabler Form zur Verfügung zu stellen. Dass dies fundamentale Auswirkungen und Veränderungen auf die zukünftige Versorgung und Forschung haben wird, auch entlang der Patient Journey, darin war sich die sehr engagierte Diskussionsrunde auf dem Barcamp Health Innovation einig.

Wie vergleichen sich die deutschen Bestrebungen, den Gesundheitsdatenraum zu gestalten und Bürger:innen und Patient:innen miteinzubeziehen mit Initiativen in anderen Ländern?

Der EHDS ist als EU-Verordnung von vornherein europäisch gedacht und wird zu einer Überwindung der bisherigen Kleinstaaterei in 27 Mitgliedsländern beitragen, bietet aber Flexibilität in der konkreten nationalen Ausgestaltung. Deutschland kann dabei sehr viel von den Lösungen in anderen Ländern lernen, die schon bisher eine kreativere Nutzung zum Beispiel der bei uns vor allem negativ diskutierten „Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)“ vorgelebt haben. Auch Health-X ist von vornherein darauf angelegt, europaweite Nutzungsszenarien zu realisieren. Vielleicht entwickeln sich EHDS-konforme Lösungen ja sogar zu einem weltweiten Erfolg, ähnlich, wie die Standards der DSGVO auch in anderen Ländern weltweit reflektiert und adaptiert wurden. Wir bieten mit föderierten und partizipativen Datenräumen, die „by design“ einzelne Bürger:innen in den Mittelpunkt stellen, eine echte Alternative zur ökonomisch dominierten Logik amerikanischer Plattformen oder zu der Top-down Logik digitaler Infrastrukturen aus China.

Welches (Zwischen)Resümee können Sie kurz vor dem Ende der Projektlaufzeit (Oktober 2024) ziehen? Kristallisieren sich vielversprechende Use Cases und konkrete Handlungsempfehlungen für die Zukunft heraus?

Unsere Projektlaufzeit wurde zwischenzeitlich bis März 2025 verlängert, aber das ist für die dauerhafte Nutzung der Projektergebnisse gar nicht so bedeutsam. Zu Beginn des Projekts war ich einer der größten Zweifler, ob wir gegen global agierende Plattformen tatsächlich eine Chance haben können. Nicht zuletzt durch den EHDS als EU-Verordnung hat sich das Blatt entscheidend gewendet. Wir bieten einen funktionierenden Techstack für die europäische Datenökonomie im Sinne des EHDS, mit dem Alleinstellungsmerkmal der Data Wallet App. Nicht nur von Seiten der assoziierten Projektpartner sowie der Health-X Innovationspreisträger erreichen uns immer mehr Ideen und Vorschläge für vielversprechende Use Cases. Insofern sehe ich kein Ende eines BMWK-geförderten Projekts, sondern den Beginn einer spannenden Zukunft, bei der nun wirklich jede:r einzelne der 450 Millionen EU-Bürger:innen im Mittelpunkt stehen und souveräne Entscheidungen in Bezug auf ihre/seine Daten treffen können.

Zur Person:

Martin Gersch hat Wirtschaftswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum in Bochum studiert und dort auch promoviert. Nach einer kurzen Zeit in der freien Wirtschaft kehrte er an die Ruhruniversität zurück und baute das Competence Center E-Commerce dort auf. 2007 erfolgte dann der Ruf an die FU Berlin. Dort leitet er heute unter anderem den Digital Entrepreneurship Hub, der die Gründungslehre an der FU Berlin koordiniert und eine Vielzahl von (Health) Start-ups begleitet. Seit 2021 ist er Mitglied des Lenkungskreises im Konsortium „Health-X”, gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

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