Zellidentitäten mit künstlicher DNA untersuchen
Alle Zellen in unserem Körper greifen auf das gleiche Erbmaterial zurück – und trotzdem haben sie jeweils andere Identitäten, Funktionen und Krankheitszustände. Die jeweiligen Zellen ganz einfach in Echtzeit unterscheiden zu können, wäre für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler extrem nützlich, die zum Beispiel Entzündungsprozesse, Infektionen oder Krebs verstehen wollen.
Ein Team am Max Delbrück Center hat nun einen Algorithmus geschaffen, der den Entwurf des jeweils passenden Werkzeuges übernimmt. Das Herzstück des Werkzeugs sind DNA-Abschnitte namens sLCRs („synthetic Locus Control Regions“), die die Identität und den Zustand von Zellen anzeigen. Die Technologie ist in verschiedenen biologischen Systemen anwendbar, berichtet ein Team um Dr. Gaetano Gargiulo nun in „Nature Communications“.
„Dank des Algorithmus können wir präzise DNA-Werkzeuge erzeugen, um Zellen zu markieren und zu untersuchen. Sie ermöglichen neue Einblicke in das Verhalten der Zellen“, sagt Gargiulo, der Leiter der Arbeitsgruppe „Molekulare Onkologie“ und Letztautor der Studie. „Wir hoffen, dass wir so Zellen direkter und auf besser skalierbare Art und Weise verstehen und manipulieren können.“
Alles begann damit, dass Dr. Carlos Company, zu der Zeit PhD-Student in der Arbeitsgruppe und einer der Erstautor*innen, das Anpassen der DNA-Werkzeuge automatisieren und damit für andere Forschende zugänglich machen wollte. Er programmierte einen Algorithmus. Dieser kann entsprechende Instrumente zur Analyse grundlegender zellulärer Vorgänge, aber auch von Krankheitsprozessen wie Krebs, Entzündungen und Infektionen erzeugen.
„Mit diesem Hilfsmittel können Forschende untersuchen, wie eine Zelle sich wandelt und eine andere Identität annimmt. Alle wichtigen Informationen, die diese Wandlung steuern, sind in einfachen synthetischen DNA-Sequenzen zusammengefasst. Das macht es besonders innovativ und ermöglicht es, komplexes zelluläres Verhalten in Feldern wie Krebs oder während der Entwicklung zu analysieren“, sagt Company.
Der Algorithmus schafft ein maßgeschneidertes DNA-Werkzeug
Das Computerprogramm heißt LSD – kurz für „logisches Design von synthetischer cis-regulatorischer DNA“. Die Forschenden geben Gene und Transkriptionsfaktoren ein, von denen sie wissen, dass sie mit dem fraglichen Zellzustand zu tun haben. Das Programm identifiziert dann DNA-Segmente (Promotoren und Transkriptionsverstärker), die den Zustand der jeweiligen Zelle steuern. Mehr ist nicht nötig – die Forschenden müssen noch nicht den genauen genetischen oder molekularen Mechanismus kennen, der das Verhalten der Zelle bestimmt.
In den Genomen von Mäusen oder Menschen sucht das Programm nach jenen Stellen, an denen die Transkriptionsfaktoren aller Wahrscheinlichkeit nach andocken, sagt Yuliia Dramaretska, ebenfalls Doktorandin im Labor von Gargiulo und Erstautorin der Studie. Es spuckt dann eine Liste relevanter Sequenzen aus, jeweils 150 Basenpaare lang, die Promotoren oder Verstärker bei einer Erkrankung sein könnten. „Das ist natürlich keine zufällige Liste“, sagt sie. „Der Algorithmus ordnet sie nach Relevanz und findet die Abschnitte, die den jeweiligen Phänotyp am besten repräsentieren.“
Wie eine Lampe in den Zellen
Aus diesen Abschnitten können die Wissenschaftler*innen dann ein Werkzeug namens sLCR bauen: Es besteht aus der am besten passenden Sequenz und einem DNA-Abschnitt, das ein fluoreszierendes Protein kodiert. „Man kann sich die sLCRs wie eine automatisierte Lampe vorstellen, die man in die Zelle einbaut. Sie schaltet sich nur dann ein, wenn die Zelle den jeweiligen Zustand erreicht, für den man sich interessiert“, sagt Dr. Michela Serresi, Wissenschaftlerin in der Arbeitsgruppe von Gargiulo und ebenfalls Erstautorin der Studie. Die Leuchtfarbe der „Lampe“ kann je nach Zustand variieren. Wissenschaftler*innen können die Zellen also mithilfe der Fluoreszenz-Mikroskopie beobachten und anhand der Farbe sofort den Zustand zuordnen. „Wir können den Farbwechsel mit bloßem Auge in der Petrischale sehen, wenn wir Wirkstoffe hinzugeben“, sagt Serresi.
Das Team hat die Anwendung des Computerprogramms zum Beispiel getestet, um Wirkstoffe an mit SARS-CoV-2 infizierten Zellen zu testen. Die Ergebnisse haben sie in „Science Advances“ publiziert. Sie haben es auch genutzt, um nach den Krankheitsmechanismen hinter besonders gefährlichen Hirntumoren – Glioblastomen – zu suchen, die einzelne Wirkstoffe nicht heilen können. „Um wirksame Therapiekombinationen zu finden, die bei bestimmten Zellzuständen der Glioblastome ansetzen, muss man nicht nur wissen, was diese Zustände definiert. Man muss sie sehen, sobald sie entstehen“, sagt Dr. Matthias Jürgen Schmitt, Wissenschaftler im Labor von Gargiulo und Erstautor. Er hat das Konzept im Labor angewendet.
Ein weiteres Beispiel: Immunzellen, die im Labor so verändert wurden, dass sie einen bestimmten Krebs erkennen und die Tumorzellen töten können. Wenn ein Patient oder eine Patientin eine Infusion mit diesen Immunzellen bekommt, funktionieren nicht alle Zellen wie erhofft. Während manche sehr effektiv sind, sind andere schnell erschöpft. Mithilfe eines ERC-Grants will die Arbeitsgruppe von Gargiulo ihr Werkzeug nutzen, um die Produktion dieser empfindlichen zellbasierten Krebstherapie zu verbessern. „Mit den richtigen Kooperationen kann das Werkzeug Fortschritte auf vielen Gebieten ermöglichen – egal ob es um Krebs, virale Infektionen oder Immuntherapien geht“, sagt Gargiulo.
Text: gav