Sylvia Thun setzt Standards für medizinische Daten
Jeden Tag entstehen unzählige Daten im Gesundheitswesen. Informationen über Diagnosen, Behandlungen und Krankheitsverlauf, über molekulare Details oder Stoffwechselprozesse. „Wir haben einen riesigen Datenschatz“, sagt Professorin Sylvia Thun, die im BIH bereits seit 2018 die Core Unit eHealth und Interoperabilität leitet. „Es wäre unethisch, diese Daten nicht zu nutzen!“
Uneinheitliche Daten behindern Erkenntnisse
Doch das ist nicht so einfach. Die Daten aus Forschung und Versorgung werden in jedem Labor und jedem Krankenhaus anders erfasst. Sie sind unterschiedlich formuliert, formatiert und in verschiedenen Softwaresystemen, wenn nicht gar auf Papier gespeichert. „Deshalb ist es nicht möglich, zum Beispiel die Daten aller Brustkrebspatientinnen oder aller Diabetespatienten miteinander zu vergleichen“, bedauert Sylvia Thun. Dabei könnte dieser Vergleich dabei helfen, die individuell wirksamste Behandlung zu finden, seltene schwere Nebenwirkungen von Medikamenten zu entdecken oder Zusammenhänge zwischen genetischer Information mit Krankheitssymptomen aufzuklären.
Kommunikationsstandards im Gesundheitswesen
„Wir brauchen Kommunikationsstandards im Gesundheitswesen“, fordert die Medizinerin und Digitalexpertin. „Wir haben uns deshalb vorgenommen, die Daten aus der Versorgung, aus molekularbiologischen Befunden, aus Gewebe- und Blutuntersuchungen und dem pathologischen Bericht strukturiert aufzubereiten.“ Dazu ist es notwendig, dass die Ärzte und Wissenschaftlerinnen ihre Messwerte und Diagnosen in einer standardisierten „Weltfachsprache“ eingeben. „Dafür benötigen wir Forschungsprojekte und innovative Software, damit es nicht zu Mehrarbeiten kommt. Wir hoffen, dass die Patienten sehr bald einen Mehrwert spüren, da Datascientists die Daten nutzbringend aufbereiten.“
Die einheitliche Datenhandhabung wird auch von der Politik unterstützt: Einerseits mit dem Krankenhauszukunftsgesetz des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), dessen Reifegradmessung zur digitalen Zukunftsfähigkeit „DigitalRadar“ Sylvia Thun leitet. Außerdem durch das Bundesforschungsministerium BMBF. „In fast allen deutschen Universitätskliniken werden im Rahmen der Medizininformatik-Initiative des BMBF Datenintegrationszentren aufgebaut, die gemeinsam Konzepte entwickeln, wie Daten dokumentiert und gemeinsam datenschutzkonform genutzt werden können. Diese Chance wollen wir nutzen“, sagt Sylvia Thun. Hierzu wollen die Beteiligten die FAIR-Prinzipien für wissenschaftliche Daten einführen: FAIR steht für Findable (auffindbar), Accessible (zugänglich), Interoperable (kompatibel) und Reusable (wiederverwendbar). Und Thun geht mit ihrem Team noch weiter: In einem nächsten Schritt möchte sie Daten über das Smartphone standardisieren: Das soll ermöglichen, dass Patient*innen Informationen regelmäßig an ihren Arzt oder ihre Ärztin schicken, damit diese verfolgen können, wie erfolgreich die Therapie tatsächlich war und sich der Gesundheitszustand im Verlauf verändert.
Standardisierte Daten als Voraussetzung für die Translation
Professor Christopher Baum, Vorsitzender des BIH Direktoriums und Vorstand für den Translationsforschungsbereich in der Charité – Universitätsmedizin Berlin, plant, die Professur für „Digitale Medizin und Interoperabilität" zukünftig am BIH im Themenfeld „Medical Data Science" einzubinden. „Mit der Berufung von Sylvia Thun haben wir eine exzellente Expertin auf dem Gebiet der Standardisierung von biomedizinischen Daten für das BIH gewonnen. Denn standardisierte Daten sind die Voraussetzung für eine Nutzen-orientierte, personalisierte Medizin, wie wir sie am BIH verfolgen. Insbesondere wird dies auch die gemeinsame Health Data Plattform (HDP) von BIH und Charité unterstützen.“
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Sylvia Thun derzeit Daten aus der Forschung am Coronavirus SARS-CoV-2 bzw. der Behandlung von COVID-19. Wissenschaftler*innen erforschen, wie sich die Ansteckungsrate auf niedrigem Niveau halten lässt, warum der eine schwer und die andere nur leicht erkrankt, wie man die COVID-19 Erkrankung am besten behandeln kann oder wie lange der Impfschutz anhält. In Instituten und Universitäten, in StartUp Unternehmen und Behörden sammeln sich Daten, Ergebnisse und Informationen, die am wertvollsten sind, wenn man sie miteinander teilt. „Indem wir einheitliche Sprachen wie FHIR, SNOMED und LOINC verwenden, sind die Daten eindeutig interpretierbar und können sogar international zusammengeführt und zu Forschungszwecken genutzt werden.“
Kerndatensatz von COVID-19-Patient*innen
Für das nationale Netzwerk der Universitätsmedizin im Kampf gegen COVID-19 erstellte das Team um Sylvia Thun einen so genannten „Kerndatensatz“ der COVID-19-Patient*innen. Er enthält sämtliche relevanten Informationen, angefangen bei persönlichen Daten wie Alter, Geschlecht, Größe und Blutdruck über Laborwerte wie Kreatinin oder D-Dimere, Risikofaktoren, Medikamenteneinnahme bis zu Symptomen und eingeleiteten Therapieverfahren.
„Genauso wichtig ist die Standardisierung natürlich in der Onkologie, der Herz- Kreislaufmedizin oder bei Diabetes, diese Erkrankungen sind ja während der Coronapandemie nicht verschwunden“, sagt Sylvia Thun. Doch ganz besonders liegen ihr die „Waisen der Medizin“ am Herzen, die so genannten Seltenen Erkrankungen. „Gerade bei medizinischen Diagnosen, die in ganz Deutschland vielleicht nur hundertmal vorkommen, kann die digitale Vernetzung äußerst hilfreich sein.“ Im Projekt CORD-MI kümmert sich das Team darum, dass die Fortschritte der Digitalisierung auch den Zentren für Seltene Erkrankungen an den Universitätskliniken zugutekommen.
Mehr Frauen in der Digitalen Medizin notwendig
Und dann gibt es noch ein weiteres Thema, das der umtriebigen Ärztin sehr wichtig ist: Die Gleichstellung von Frauen in der digitalen Medizin. Denn sowohl in der Datenbasis, auf der die Algorithmen der künstlichen Intelligenz beruhen, als auch unter den KI-Entwicklern sind Frauen unterrepräsentiert. Gemeinsam mit der Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Dr. Christiane Groß, hat sie daher das Netzwerk „#SHEHEALTH“ gegründet mit dem Ziel, das Engagement von Frauen vor allem im Bereich der digitalen Medizin sichtbar zu machen. „Wir brauchen mehr Medizininformatikerinnen und weibliche Health Data Scientists, hier hat die Branche definitiv noch Nachholbedarf“, erklärt die engagierte Wissenschaftlerin, die sogar ein Buch zum Thema mitherausgegeben hat.
Digitaler Kopf
Sylvia Thun hat Physikalische Technik/Biomedizinische Technik (Dipl.-Ing.) sowie Humanmedizin an der RWTH Aachen studiert und wurde dort auch 2001 im Bereich radiologische Bildgebung zum Dr. med. promoviert. Zudem erlangte sie die Zusatzbezeichnung ‚Medizininformatik‘ der Ärztekammer Nordrhein und ist Zertifikatsträgerin der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS). Anfangs übernahm sie am Bundesministerium für Gesundheit sowie am Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) in Köln Forschungsaufgaben, bevor sie 2011 auf die Professur für Informations- und Kommunikationstechnologien an der Hochschule Niederrhein (HSNR) in Krefeld berufen wurde. 2014 wurde Sylvia Thun vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zu einem der „Digitalen Köpfe“ Deutschlands ernannt. Während Ihrer Tätigkeit beim Aufbau der Medizininformatik-Initiative des Bundesforschungsministeriums (BMBF) wurde Sylvia Thun 2017 als Visiting Professorin ans BIH berufen. Seither leitet sie dort als Direktorin die Core Unit für eHealth und Interoperabilität Forschungsgruppen mit ca. 20 Mitarbeiter*innen.