Neuköllner Stadtteilgesundheitszentrum gewinnt den Berliner Gesundheitspreis
Das Stadtteilgesundheitszentrum Neukölln erhält den 1. Preis in Höhe von 20.000€ gemeinsam mit der Poliklinik Veddel. Beide Projekte sind multiprofessionelle Einrichtungen zur integrierten Versorgung benachteiligter und strukturschwacher Stadtteile und seiner Anwohner*innen, die gleichermaßen gesundheitliche, psychische und soziale Ursachen von Gesundheit in den Blick nehmen.
Das Gesundheitszentrum Neukölln arbeitet seit 2021 im Neuköllner Rollberg- und Flughafenkiez. Hier zeigen sich die Probleme einer ungerechten Gesundheitsversorgung besonders deutlich. Menschen in Armut, mit unsicheren Wohnverhältnissen, prekären finanziellen Bedingungen, mit Diskriminierungserfahrungen und sprachlichen und sozialen Zugangsbarrieren zur Sozial- und Gesundheitsversorgung haben eine schlechtere Gesundheit und eine geringere Lebenserwartung.
Dr. Patricia Hänel, Projektmanagerin im Stadtteilgesundheitszentrum: „Gesundheit gerecht gestalten heißt für uns, die individuellen Bedarfe zu beantworten. Menschen mit erhöhtem Bedarfen, die im komplizierten Gesundheits- und Sozialsystem durch die Maschen des Systems fallen, erhalten bei uns leicht zugängliche medizinische, soziale und psychologische Angebote unter einem Dach. Die Vermittlungswege sind kurz, die Menschen kommen an.“ Das Stadtteilgesundheitszentrum bietet eine umfassende Versorgung durch verschiedene Fachkräfte, die eng zusammenarbeiten: Es umfasst eine Allgemeinarztpraxis, eine Kinderarztpraxis, Therapieangebote für Kinder und Jugendliche sowie soziale, familiäre und psychologische Beratungsangebote. Zusätzlich beinhaltet es ein innovatives Zugangskonzept, die Café-Praxis, die dazu beiträgt, Barrieren abzubauen, Orientierung im Zentrum und im Kiez liefert, Ehrenamtliche aus dem Stadtteil integriert und einen Raum bereitstellt für Selbsthilfe und Selbstorganisation. Das Zentrum ist viel mehr als eine gute Versorgung für Menschen in prekären Lebenslagen - es ist ein Ort, an dem Menschen, die die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse besonders zu spüren bekommen, Gemeinschaft, Sinn und Selbstwirksamkeit erleben können.
Und das Zentrum geht zu den Menschen: Shao-Xi Lu, Referentin für Gemeinwesenarbeit dazu: „Das Konzept der interprofessionellen und integrierten Versorgung haben wir erfolgreich ergänzt durch eine innovative Gemeinwesenarbeit: hier senken wir Barrieren, schaffen einfache Zugänge zu unseren Versorgungsangeboten, vernetzen uns mit anderen Akteur*innen und Gruppen im Stadtteil und entwickeln Ansätze der Verhältnisprävention, in denen wir Ungleichheits- und Diskriminierungsstrukturen adressieren.“
Eine progressive Gesundheitsförderung muss Verhaltens- mit Verhältnisprävention verknüpfen. Das heißt, wenn in der primärmedizinischen Versorgung über Tabak und Alkoholkonsum geredet wird, müssen wir in diesem Zuge auch über Arbeits- und Einkommensverhältnisse reden. Wenn über Bewegungsarmut und Fehlernährung gesprochen wird, muss auch über Bildungschancen, gebaute Umwelt oder Zugang zu Grünflächen gesprochen werden. Und wenn über Stress gesprochen wird, muss man auch über Wohnverhältnisse, gesellschaftliche Hierarchien und strukturelle Diskriminierung sprechen.
Getragen, begleitet, kritisch weiterentwickelt wird unsere Arbeit in den Stadtteilgesundheitszentren durch regionale und bundesweite Netzwerke von Ehrenamtlichen und Aktivist*innen verschiedener Professionen. Die Stadtteilgesundheitszentren sind das Ergebnis der jahrelangen Arbeit einer bundesweiten Gesundheitsbewegung, die für mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit im Bereich Gesundheit kämpft. Das Ziel ist, Stadtteilgesundheitszentren flächendeckend in Deutschland zu etablieren. Daher begrüßen wir auch das Vorhaben der Bundesregierung, niedrigschwellige Primärversorgungsstrukturen aufzubauen, die einen diskriminierungsfreien Zugang zu gesundheitlicher Versorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen schaffen. Der gestern veröffentlichte Referentenentwurf für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz – GVSG) reicht allerdings nicht weit genug, um den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden und Antworten auf die bestehenden gesundheitlichen Ungleichheiten zu liefern. Wir fordern ein Umdenken in der Primärversorgung weg von Ärztezentrierung hin zu einer multiprofessionellen Versorgung, die im Sinne eines Public-Health-Ansatzes auch über die individuelle Ebene hinausblickt und die Lebensbedingungen adressiert.