Interview | Prof. Peter H. Seeberger, Direktor des Departments für Biomolekulare Systeme am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam

Die Chemie wird sich komplett transformieren

Der Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam Prof. Peter Seeberger ist ein renommierter Experte auf dem Gebiet der Glykowissenschaften. Er ist zudem Professor an der Freien Universität Berlin und Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Als Gastprofessor ist er auch in Australien und Asien tätig. Der Chemiker blickt auf eine lange akademische Karriere zurück, die ihn zu den besten Adressen seines Fachs führte. Darüber hinaus war er an der Gründung von vielen Firmen beteiligt. Wir haben mit ihm über den Erfolg von Gründungen und die Weiterentwicklung der Wissenschaft gesprochen.

 

1. Herr Prof. Seeberger Sie haben viele Jahre im Ausland verbracht und dort gesehen, dass auch Professoren ausgründen können. Sie selbst sind ebenfalls schon bei vielen Ausgründungen dabei gewesen – u.a. Ancora Pharmaceuticals, GlycoUniverse, Vaxxilon/heute Idorsia, ArtemiFlow und Glyxera. Welche davon ist aus Ihrer Sicht so richtig erfolgreich?

Erfolgreich ist ein Produkt aus meiner Sicht, wenn es einen Bedarf adressiert und sich dementsprechend gut verkaufen lässt. Ein Unternehmen, das dadurch Menschen zu guten Bedingungen anstellen und ihnen ein Auskommen bieten kann, ist erfolgreich. Ich denke, das haben alle unsere Firmen geschafft. Bei der Bemessung von Erfolg muss man auch zwischen der Art der Produkte bzw. der Zielsetzung unterscheiden, die die Firmen haben. Beispielsweise haben wir GlycoUniverse vor zehn Jahren mit Sitz in Potsdam gegründet. Dort werden Automaten gebaut, mit denen man Zucker zusammensetzt und Werkzeuge gefertigt, die für die Zuckerforschung benötigt werden. Das ist ein sehr kleines und profitables Unternehmen. Vaxxilon haben wir 2015 in Berlin gegründet, dort geht es darum Impfstoffe zu entwickeln, die vor Krankenhauskeimen schützen und es wurden allein in der ersten Finanzierungsrunde 30 Millionen Euro eingesammelt, bevor das Unternehmen im Jahr 2020 von Idorsia gekauft wurde. Idorsia fand die Projekte dort vielversprechend, führt sie bis heute fort und hat ein Produkt in klinischen Tests. Beide Unternehmen sind auf ihre Art erfolgreich – der Verkauf von Instrumenten ist nur einfacher als die Entwicklung von Impfstoffen – das ist ein sehr langwieriges Geschäft.

 

2. Aktuell sind Sie ebenfalls in Gründungsgesprächen, möchten Sie uns einen Einblick in Ihre Pläne gewähren?

Es gibt immer mehrere Ideen, die machbar sind und darauf warten umgesetzt zu werden. Zu allem kommt man aber nicht. Aktuell kann ich zwei Projekte nennen: Das wäre erstens die Firma Agas, die sich mit Endometriose auseinandersetzt. Das ist eine besonders schmerzhafte Unterleibserkrankung bei Frauen, für die es momentan keine Heilungsmöglichkeiten gibt und für die die Diagnostik sieben bis elf Jahre dauert. Agas hat bei uns am Max-Planck-Institut einen Bluttest entwickelt um die Endometriose schnell zu diagnostizieren. Daraus lassen sich Empfehlungen ableiten, wie der Krankheit am besten begegnet werden kann. Derzeit befindet sich Agas in der ersten Fundraising-Phase. Das zweite ist eine weitere große Impfstofffirma, die sich mit Krankenhauskeimen auseinandersetzt. Aktuell wird davon ausgegangen, dass Krankenhauskeime bis 2050 für mehr Todesfälle weltweit verantwortlich sein werden als neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Krebs zusammen. Auch wenn es nicht so schlimm kommen sollte, ist das immer noch ein sehr großes Problem, dem man nur schwer ausschließlich mit Antibiotika begegnen kann. Deshalb sind wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von der Charité dabei, eine Firma auf die Beine zu stellen. Ich denke, dass wir im ersten Quartal dieses Jahres mit dem Fundraising beginnen können.

 

3. Mit Ihrer Erfahrung als Wissenschaftler, was denken Sie wird in der Zukunft möglich sein? Oder einfacher gefragt: Was ist das nächste große Ding?

Das kann ich nur in Hinblick auf die Chemie beantworten. Ich bin seit einem Jahr im „Center for the Transfomation of Chemie“ – CTC in Sachsen und Sachsen-Anhalt engagiert. Unabhängig von der lokalen Verortung, stellen sich dort ganz allgemeine Fragen, die die Chemie betreffen. Das große Thema, das wir sehen, ist eine ganzheitliche Veränderung der Chemie an sich. Das beginnt bei der Veränderung der Rohstoffe, wir müssen so weit als möglich weg von Öl und Gas. Hinzu kommt, dass wir neue Prozesse etablieren müssen, die energieeffizienter und nachhaltiger sind. Das bedeutet, wir müssen die Chemie völlig neu aufstellen. Bisher werden Daten durch Experimente in sehr aufwendigen Verfahren gewonnen. Dies wird künftig durch ein Zusammanespiel von Automation und Maschinellem Lernen verschlankt werden. Das bedeutet Chemikerinnen und Chemiker werden in Zukunft wahrscheinlich auf sogenannte Chem-Server zurückgreifen. Das sind Maschinen, die sich ohne Eingriff von Fachleuten selbstständig optimieren können und so Daten liefern, die mit Hilfe maschinellen Lernens eingesetzt werden, um schneller zu interessanten Chemikalien zu gelangen. Letztlich ist es in der Chemie so wie nahezu überall, dass künftig bei der Verschränkung des Fachs mit der KI die Musik spielen wird.

 

4. Sie sind auch in der Lehre aktiv, was finden Sie an der jungen Nachwuchswissenschaftlergeneration gut, was kann diese sogar besser als „wir“? 

Ich bin mir sicher, dass die nächste Wissenschaftsgeneration das besser oder zumindest genauso gut machen wird, wie die jetzige. Der Nachwuchs, den ich heute sehe, hat in meiner Wahrnehmung den Vorteil, dass die meisten weitaus besser Englisch sprechen als wir das getan haben. Es gibt zudem eine viel größere Mobilität im Vergleich zu früher. Wir haben viele Nachwuchswissenschaftler aus anderen Ländern, davon profitieren wir in Deutschland massiv. Allein bei uns am Institut sind bis zu 75 Prozent nicht deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zudem nehme ich bei der neuen Generation eine viel höhere Affinität zur Automation von Prozessen sowie ein viel größeres Grundverständnis und Offenheit für Datenverarbeitungstechnik wahr. Hinzukommt ein starkes Interesse der jungen Leute nachhaltig und umweltschonender zu arbeiten, eine Entwicklung, die uns in der Chemie, aber auch in der Pharmabranche weiterbringen wird. Unabhängig davon sind wir hier in Berlin und der Umgebung, was den Nachwuchs anbelangt, bestens aufgestellt. Es gibt fünf großartige Universitäten und viele außeruniversitäre Einrichtungen. Für uns ist es überhaupt kein Problem, Leute aus allen Teilen der Welt hier her zu bringen, weil es in vielerlei Hinsicht ein attraktiver Ort zum Leben und Arbeiten ist.

Zur Person:

Peter Seeberger hat seine akademische Laufbahn an der Universität Erlangen-Nürnberg mit einem Chemiestudium begonnen. Noch vor seinem Abschluss wechselte er als Fulbright-Stipendiat an die University of Colorado in Boulder und promovierte 1995 in Biochemie. Dort fängt er an, sich für Zucker zu interessieren. Während seines Postdoktorandenaufenthalt am Sloan-Kettering-Institut für Krebsforschung in New York hat er die Möglichkeit bei den führenden Wissenschaftlern der Zuckerchemie zu lernen. 1998 wird er Assistenz-Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und erhält dort nach drei Jahren eine Festanstellung als Professor für Chemie. Zu der Zeit gründet er auch zusammen mit anderen seine ersten zwei Firmen in den USA – eine im Bereich der Durchfluss-chemie. Ab 2003 wird er Professor für Organische Chemie am Departement für Chemie und angewandte Biowissenschaften der ETH Zürich. Im Jahr 2009 folgt er dem Ruf der Max-Planck-Gesellschaft an Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Dort leitet er seither die Abteilung „Biomolekulare Systeme“. Vor allem werden zwei Themenfelder von ihm dort bearbeitet: zum einen die automatisierte Synthese der Zucker, zum anderen die Idee der Durchflusschemie weiterentwickeln. Bei der Durchflusschemie wird Chemie in einem Schlauch bzw. Rohr praktiziert, dadurch lassen sich chemische Reaktionen besser kontrollieren.

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