Interview: Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp, Leiter des Unfallkrankenhauses Berlin
Herr Prof. Ekkernkamp, was bedeutet Gesundheit 4.0?
Der Name ist in Anlehnung an den Begriff Industrie 4.0 entstanden, der wiederum die High-Tech-Strategie der Bundesregierung beschreibt, die auf Forschungsverbünde und Vernetzung setzt. In der Gesundheitswirtschaft wollen wir eine ähnliche Strategie verfolgen. Die digitale Welt ist im Gesundheitswesen am weitesten zurück. Wir sind eine Republik der Bewahrer. Viele Länder haben bereits elektronische Gesundheitskarten – eine App, in der wichtige Vitaldaten wie Allergien oder Vorerkrankungen gespeichert sind. Wir haben sie auch nach zehn Jahren und neunstelligen Investitionen nicht realisiert. Es ist ein Trauerspiel. Apple hat etwas Vergleichbares in wenigen Wochen auf den Markt gebracht. Daher wollen wir das kreative Potenzial am Standort Berlin-Brandenburg sichten, bündeln, nutzbar machen und die Strahlkraft der Hauptstadtregion verbessern.
Das 1997 gegründete Unfallkrankenhaus Berlin in Marzahn ist ein „digital master hospital“ und gilt damit als Vorreiter bei der Entwicklung der digitalen Medizin. Was macht das ukb anders?
Als neue Institution brauchten wir ein Alleinstellungsmerkmal. Unser Ziel war und ist es, unseren Patienten immer die neuesten Angebote in Diagnostik und Therapie vorzuhalten. Wir waren weltweit die erste Klinik, die komplett digitales Röntgen betreibt. Die eingeführten IT-Entwicklungen erleichtern unseren Beschäftigten die Arbeit, sodass sie mehr Zeit am Patientenbett haben. Zudem erhöhen sie die Sicherheit der Patienten. Drei konkrete Beispiele für arztunterstützende Maßnahmen: In unserem Patienten-Daten-Management-System (PDMS), das mit den Intensivstationen verbunden ist, wird alles elektronisch dokumentiert. Bei uns weiß man immer genau, wo sich der Patient gerade befindet. Unsere mobile Visite – ein Rollwagen samt Monitoren – macht es uns möglich, den Patienten direkt am Bett Röntgenbilder oder CT-Aufnahmen zu zeigen und sie zu erklären. Und mit unserem Medikamenten-Managementsystem haben wir eine intelligente Software entwickelt, die verhindert, dass die unterschiedlichen Medikamente, die ein Patient zu sich nimmt, negativ miteinander interagieren.
Wie verändern digitale Technologien den Klinikalltag, die Diagnostik und Therapien?
Mit digitalen Datensätzen können wir viel mehr Dinge als früher behandeln und eine effektivere, individualisierte Therapie entwickeln – sei es für eine Brustkrebspatientin oder für ein Unfallopfer, dessen Gesichtsknochen mithilfe eines Implantats rekonstruiert werden müssen. Besonders aufmerksam verfolge ich die Forschungsarbeit des US-Mediziners Anthony Atala, der aus menschlichen Zellen transplantierbare Gewebe und Organe mit dem 3-D-Drucker erzeugen will. Das ist toll, weil die Organspende nicht nur ein ethisch und moralisch schwieriges Thema ist, sondern auch mit großen Risiken einhergeht. Organempfänger müssen bisher ihr Leben lang Immunsuppressiva nehmen, um eine Abstoßungsreaktion zu vermeiden. Bei einem Organ aus körpereigenem Material erübrigt sich das: Dann bin ich mein eigener Spender. Als nächste Stufe der digitalen Medizin sehe ich arztersetzende Maßnahmen – was nicht bedeutet, dass der Arzt überflüssig wird. Es geht lediglich darum, ärztliche Routinearbeiten in Teilen durch Roboter zu ersetzen – in Anwesenheit des Arztes. Dinge, die totale Präzision erfordern, können Roboter eindeutig besser. Schon jetzt kommen bei Operationen elektronische Navigationshilfen wie Laserpointer zum Einsatz. Das roboter-assistierte Chirurgiesystem Da-Vinci unterstützt bei minimal-invasiven OPs an der Prostata oder im Bauchraum, das Cyber-Knife wird für die Strahlentherapie kleinster Metastasen verwendet. Aktuell arbeiten wir an einer Software, die die Aufnahmen aus dem Computertomographen analysiert und auswertet. Ich sehe nicht ein, warum auf lange Sicht ein Radiologe mit dem Finger am Monitor nach einer Pathologie suchen soll. Das ist doch total antiquiert!
Welche Rolle spielt die rege Start-up-Szene der Hauptstadtregion bei der Entwicklung digitaler Gesundheitslösungen?
Hier herrscht das ideale Klima dafür, die jungen Gründer sind motiviert und kompetent. Wir müssen aber aufpassen, dass da kein totaler Wildwuchs entsteht. Für das große Angebot an Entwicklungen gilt es nun, Kriterien zur Qualitätssicherung zu erarbeiten. Diese Aufgabe wollen wir im ukb zusammen mit dem Mental Health Inkubator (MHI) als Industrie-in-Klinik-Plattform (siehe News, Anm. d. Red.) intensiv vorantreiben. Wir werden die Start-ups mit der klinischen Fachkompetenz eines modernen Krankenhauses betreuen und ihre Produkte in unserem Zentrum für klinische Forschung anwenden und evaluieren. Mit Markus Müschenich, einem der MHI-Gründer, habe ich bereits vor 15 Jahren eng zusammengearbeitet, wir sollten also schnell kreativ werden können.
Die digitale Gesundheitsversorgung ist softwarebasiert, man kann sie im Gegensatz zu klassischer Medizintechnik nicht anfassen. Wie hoch ist die Akzeptanz innerhalb des deutschen, eher traditionell geprägten Gesundheitssystems?
Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Apotheker- und Ärztebank zur Digitalisierung im Gesundheitsmarkt, für die 500 Heilberufler aller Fachrichtungen online befragt wurden, gibt es seitens der Leistungserbringer noch immer eine deutliche Zurückhaltung. Positive Aspekte wie die verbesserte medizinische Versorgung, eine transparentere Kommunikation und ein effizientes Datenmanagement werden zwar wahrgenommen, aber viele Befragte betonen Nachteile wie möglichen Datenmissbrauch, mehr Bürokratie, eine steigende Informationsflut und hohe Investitionen bei kleiner Rendite. Es gibt immerhin an einigen Stellen hoffnungsvolle Ansätze: Die AOK Nordost kooperiert mit Cisco, das wissensbasierte Computersystem Watson von IBM ist auf dem Vormarsch, ich selbst bemühe mich um Projekte mit Microsoft. Natürlich ist Datenschutz wichtig. Er darf aber nicht dazu führen, dass Patienten Nachteile haben. Eine komplette Verweigerungshaltung bringt uns nicht weiter.