Inklusion seit 45 Jahren: Bei Berlin-Chemie verleihen Menschen mit Behinderung Medikamentenverpackungen den letzten Schliff

»Hier wird schon einmal umarmt«

Inklusion seit 45 Jahren: Bei Berlin-Chemie verleihen Menschen mit Behinderung Medikamentenverpackungen den letzten Schliff. Medikamente verpacken, Gebrauchsanweisungen falzen, Etiketten aufkleben: In der geschützten Betriebsabteilung bei Berlin-Chemie in Adlershof übernehmen diese Aufgaben Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung. Sie sind ein integraler Bestandteil des Pharmakonzerns, der in Berlin an den Standorten Adlershof und Britz Medikamente produziert.

 

Die Arbeitsstelle war in der DDR der soziale Mittelpunkt und die Einbindung von Menschen mit Behinderung vielfach eine Selbstverständlichkeit. So auch beim Pharmaunternehmen Berlin-Chemie in Adlershof. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der im Osten gelegene Teil des Unternehmens, das bereits 1890 gegründet wurde, zum volkseigenen Betrieb. Bis in die 1970er Jahre stellten hier Menschen mit und ohne Behinderung Medikamente her. „Damals war es noch nicht nötig, eine entsprechende Ausbildung zu haben“, erklärt Sebastian Jastram, seit 2020 Leiter der geschützten Betriebsabteilung. Nach und nach aber seien die Anforderungen gestiegen. „Da konnte nicht jede:r mithalten, diese Menschen sollten aber auch nicht ihren Job verlieren.“ Kurzerhand beschloss das Unternehmen, etwas Neues zu wagen – und rief 1978 seine geschützte Betriebsabteilung ins Leben.

45 Jahre später sind die Unternehmensteile in Ost und West wiedervereinigt, Berlin-Chemie ist Teil des italienischen Konzerns Menarini und die geschützte Betriebsabteilung zu stattlicher Größe herangewachsen. Heute besteht sie aus einem Leitungsduo, vier Sozialarbeiter:innen, zwei Arbeitsvorbereiterinnen und rund 30 Mitarbeitenden. Diese sorgen, unbefristet und tarifgebunden dafür, dass in Sachen Medikamentenverpackungen alles glatt geht. Rund 1.000 m² stehen ihnen hierzu zur Verfügung – barrierefrei, lichtdurchflutet und angepasst an ihre Bedürfnisse. Wer die Abteilung betritt, muss Hygienebestimmungen einhalten, sich die Hände desinfizieren, Kittel, Haarnetz und Bartschutz tragen. Im Vorraum zeigt dann eine Magnettafel, welche Aufgaben für den Tag anstehen. Anhand von Ampelsystemen und Piktogrammen – nicht alle Mitarbeitenden können lesen – wird sofort deutlich, was zu tun ist. Falls es Fragen gibt, unterstützt das Leitungsteam, hilft auch bei komplexeren Aufgaben.

Ein Großteil der Arbeit in der geschützten Betriebsabteilung besteht daraus, Gebrauchsanweisungen nachzustecken. Denn nicht alle Packungsbeilagen können maschinell gefalzt und in die Verpackung geschoben werden, ohne dass Tablettenblister beschädigt werden. Manchmal sind Medikamente auch falsch etikettiert oder es befinden sich zu viele oder zu wenige Blister in einer Packung. „Im Team sorgen wir dann dafür, dass am Ende alles stimmt.“ Darüber hinaus sortieren die Mitarbeitenden Unternehmenspost, bündeln kleinere Schachteln zu größeren, falzen Packungsbeilagen, transportieren Paletten mit dem Gabelhubwagen und verpacken sie in Folie. Dass das Team wirklich gerne hier arbeitet, zeigen die rekordverdächtigen Dienstjahre: Im Januar verließ Mitarbeiter Frank die Abteilung nach 45 Dienstjahren. Auch viele weitere Kolleginnen und Kollegen wollen bis zur Rente bleiben.

„Als Sebastian mir vor vier Jahren sagte, er will die geschützte Betriebsabteilung leiten, habe ich gesagt: Nein, das kommt nicht in Frage!“, erinnert sich Christian Matschke, Vorstandsmitglied von Berlin-Chemie. „Er hatte eine gehobene Position am Unternehmensstandort in Britz und ich wollte, dass er Karriere macht. Für ihn war es aber eine Herzensangelegenheit. Heute muss ich sagen: Es war die beste Entscheidung.“ Zur geschützten Betriebsabteilung zu wechseln sei für ihn ein beruflicher Bruch gewesen, bestätigt Jastram. Heute aber könne er sich gar nichts anderes mehr vorstellen. „Wir tragen das Herz auf der Zunge, hier wird schon einmal in den Arm genommen.“

Beim Unternehmenssommerfest sprachen ihn kürzlich Kolleg:innen an, wann er an den Standort Britz zurückkehre. „Da hat sich der ganze Tross von meinen Mitarbeitenden um mich gestellt und gesagt: ,Den geben wir nicht mehr her!‘ Tatsächlich würde ich niemals woanders hingehen.“ Andere Unternehmen möchte Jastram ermutigen, Menschen mit Behinderung stärker einzubinden. „Wenn Menschen Vertrauen bekommen und die entsprechenden Strukturen geschaffen werden, ist das machbar. Unsere Abteilung ist der beste Beweis.“