HIV-Heilung an der Charité: Der zweite Berliner Patient
Die Therapiemöglichkeiten bei einer HIV-Infektion haben enorme Fortschritte gemacht, bei guter Behandlung ist für die Betroffenen heutzutage ein weitgehend normales Leben möglich. Dennoch gilt eine HIV-Infektion als nicht heilbar – normalerweise. In äußerst seltenen Fällen ist es mithilfe einer Stammzelltransplantation gelungen, das HI-Virus aus dem Körper zu entfernen.
Infrage kommt eine Stammzelltransplantation nur für jene Patient:innen, die zusätzlich zur HIV-Infektion auch an bestimmten Formen von Blut- oder Lymphknotenkrebs erkranken und bei denen sich diese Krebserkrankung nicht allein mit einer Strahlen- oder Chemotherapie eindämmen lässt. Bei dem Eingriff werden Stammzellen einer gesunden Person auf den erkrankten Menschen übertragen und damit praktisch sein Immunsystem ausgetauscht. So lässt sich nicht nur der Krebs bekämpfen, sondern auch das HI-Virus. Bisher nahm man an, dass dafür ein Stammzellspender mit ganz spezifischen genetischen Merkmalen gefunden werden muss.
Die Rolle der HIV-Andockstelle CCR5
Denn um sich zu vermehren, befällt das HI-Virus verschiedene Immunzellen und benötigt dafür eine bestimmte Andockstelle, den sogenannten CCR5-Rezeptor. Etwa ein Prozent der europäischstämmigen Bevölkerung verfügt über einen CCR5-Rezeptor mit der sogenannten Delta-32-Mutation, die das Eindringen des HI-Virus verhindert und die Träger natürlicherweise immun gegen HIV macht. Gelingt es, einen Stammzellspender zu finden, dessen Gewebeeigenschaften zum Empfänger passen und der die immunitätsstiftende Mutation trägt, kann eine Stammzelltransplantation neben dem Krebs auch die HIV-Infektion besiegen.
Dass dieses Prinzip funktioniert, belegte ein Behandlungsteam der Charité bereits 2008 anhand des sogenannten Berliner Patienten. Vier weitere Personen sind seither weltweit auf dieselbe Art und Weise behandelt worden und gelten als von HIV geheilt. Jetzt ist es der Berliner Universitätsmedizin ein zweites Mal gelungen, bei einem Menschen sowohl eine akute myeloische Leukämie (AML) als auch eine HIV-Infektion erfolgreich zu therapieren – allerdings mit einer leicht veränderten Methode. Der Fall soll am 24. Juli auf der Welt-Aids-Konferenz in München der Fachwelt vorgestellt werden.
Behandlung des zweiten Berliner Patienten
Der heute 60-Jährige war 2009 positiv auf HIV getestet worden, 2015 wurde zusätzlich eine AML diagnostiziert. Ein Team an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité übernahm die Behandlung der Leukämie. Das Risikoprofil des Patienten machte zusätzlich zur Chemotherapie auch eine Stammzelltransplantation notwendig.
„Weil es für die Stammzellspende leider keine geeignete HIV-immune Person gab, haben wir eine Spenderin ausfindig gemacht, die auf ihren Zellen neben der normalen Version des CCR5-Rezeptors zusätzlich auch die mutierte Version der Andockstelle trägt“, erklärt Prof. Olaf Penack, Oberarzt an der behandelnden Klinik. „Das ist der Fall, wenn ein Mensch die Delta-32-Mutation nur von einem Elternteil vererbt bekommt. Das Vorhandensein beider Rezeptor-Versionen verleiht allerdings keine Immunität gegen das HI-Virus.“
Dass die Stammzelltransplantation gegen das HI-Virus dennoch erfolgreich war, zeigte sich, nachdem der Patient 2018 aus eigenen Stücken die empfohlene antivirale Therapie absetzte. In der umfassenden Verlaufskontrolle konnte das Behandlungsteam bis zum heutigen Tage keinerlei Hinweise auf Virus-Reste finden. Das Immunsystem des Patienten ist funktional, auch Krebszellen sind nicht nachweisbar. „Der Patient ist in erfreulich guter gesundheitlicher Verfassung“, sagt Olaf Penack. „Die jetzt mehr als fünfjährige virusfreie Beobachtungszeit deutet darauf hin, dass das HI-Virus aus dem Körper des Patienten tatsächlich komplett entfernt werden konnte. Wir sehen ihn deshalb als von seiner HIV-Infektion geheilt an.“
Heilung auch ohne HIV-Immunität der Stammzellspenderin
„Dass die Heilung gelang, obwohl die Stammzellspenderin nicht immun gegen das HI-Virus war, ist äußerst überraschend“, betont Prof. Christian Gaebler, HIV-Experte und Arbeitsgruppenleiter an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité und dem Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Er hat den Fall aus infektiologischer Sicht analysiert. „Bisherige Stammzelltransplantationen ohne immunen Spender führten dazu, dass sich das HI-Virus nach wenigen Monaten wieder vermehrte.“
Der zweite Berliner Patient beweist, dass eine HIV-Heilung trotz funktionierender Andockstelle für das Virus möglich ist. „Das bedeutet, dass die Heilung wohl nicht auf die genetische CCR5-Ausstattung der Stammzellspenderin zurückzuführen ist, sondern darauf, dass die transplantierten Immunzellen der Spenderin alle HIV-infizierten Zellen des Patienten beseitigt haben“, erklärt Christian Gaebler. „Mit dem Austausch des Immunsystems haben wir offenbar alle Virus-Verstecke zunichte gemacht, sodass das HI-Virus die gespendeten, neuen Immunzellen nicht mehr infizieren konnte.“
Welche Faktoren haben zur Heilung beigetragen?
Warum die Stammzelltransplantation in diesem Fall zu einer Heilung geführt hat, während das Virus sich bei vergleichbaren Fällen wieder vermehrte, ist noch unklar. Die Forschenden ziehen mehrere potenzielle Faktoren in Betracht. „Möglicherweise hat die Geschwindigkeit einen Einfluss, mit der das neue Immunsystem das alte ersetzt“, sagt Christian Gaebler. „Beim zweiten Berliner Patienten war dies mit unter 30 Tagen vergleichsweise schnell abgeschlossen. Vielleicht verfügt aber auch das Immunsystem der Spenderin über besondere Eigenschaften, wie beispielsweise besonders aktive natürliche Killerzellen, die dafür sorgen, dass schon eine geringe HIV-Aktivität erkannt und beseitigt wird.“
Von der Aufklärung des Heilungsmechanismus beim zweiten Berliner Patienten und potenziellen weiteren Fällen versprechen sich die Forschenden neue Schlüsse für die zukünftige Behandlung von Menschen mit HIV. „Unser Ziel ist weiterhin, HIV-Infektionen in Zukunft nicht nur im Einzelfall, sondern in der Breite heilen zu können“, sagt Christian Gaebler. „Aufgrund der erheblichen Risiken, die mit einer Stammzelltransplantation verbunden sind, eignet sich dieses Verfahren jedoch nicht für den Einsatz bei allen HIV-Infektionen. Sobald wir besser verstehen, welche Faktoren beim zweiten Berliner Patienten zur Entfernung aller HIV-Verstecke beigetragen haben, lassen sich die Erkenntnisse hoffentlich für die Entwicklung neuartiger Behandlungskonzepte wie zum Beispiel zellbasierter Immuntherapien oder therapeutischer Impfstoffe nutzen.“
Über den zweiten Berliner Patienten
Der zweite Berliner Patient gehörte bereits vor der Stammzelltransplantation zu den rund 16 Prozent der europäischstämmigen Menschen, die – wie die Stammzellspenderin – sowohl die gesunde als auch die mutierte Version des CCR5-Rezeptors in ihren Zellen tragen (also „heterozygot“ für die Delta-32-Mutation sind). Inwiefern dieses Detail zur HIV-Heilung beigetragen hat, ist nicht klar. Neben Prof. Olaf Penack und Prof. Christian Gaebler waren an der Behandlung und Betreuung des zweiten Berliner Patienten sowie der Datenanalyse maßgeblich beteiligt: Dr. Samad Kor, Prof. Igor-Wolfgang Blau und Prof. Lars Bullinger (Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité); Dr. Kristina Allers und Prof. Thomas Schneider (Medizinische Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie der Charité); Dr. Michela Perotti (Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité); David Mwangi und Dr. Martin Obermeier (Medizinisches Infektiologiezentrum Berlin MVZ mib AG).
Über die Fallstudie
Die aktuell vorliegenden Daten zum zweiten Berliner Patienten werden am 24. Juli auf der Welt-Aids-Konferenz in München unter dem Titel „The next Berlin patient: sustained HIV remission surpassing five years without antiretroviral therapy after heterozygous CCR5 WT/Δ32 allogeneic hematopoietic stem cell transplantation“ vorgestellt werden. Die Daten sind noch nicht von unabhängigen Expert:innen begutachtet worden, eine Publikation in einem Fachjournal mit Peer Review ist geplant.
Über den ersten Berliner Patienten
Bei dem damals in Berlin lebenden US-Amerikaner Timothy Ray Brown war 1995 eine HIV-Infektion, 2006 zusätzlich eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert worden. Durch die Transplantation von Stammzellen einer Person mit homozygoter, also von beiden Elternteilen vererbter CCR5-Delta-32-Mutation gelang einem Team an der Charité neben der erfolgreichen Therapie der Leukämie auch die weltweit erste vollständige Entfernung des HI-Virus aus dem Körper des Patienten. Das Behandlungsteam machte den Fall 2008 öffentlich. Der zur Wahrung seiner Anonymität zunächst als Berliner Patient bezeichnete Timothy Ray Brown hob seine Anonymität später auf. Er starb 2020 mit 54 Jahren in den USA, nachdem die Leukämie zurückgekehrt war.
Über HIV-Heilungen
Als sicher von HIV geheilt galten bisher fünf Personen: Timothy Ray Brown (erster Berliner Patient, Publikation 2009), Adam Castillejo (Londoner Patient, Publikation 2019), Marc Franke (Düsseldorfer Patient, Publikation 2023), die New Yorker Patientin (Publikation 2023) und Paul Edmonds (City of Hope Patient, Publikation 2023). Der Genfer Patient, der eine Stammzellspende einer Person mit ausschließlich funktionierendem CCR5-Rezeptor erhielt, wurde 2023 auf der Welt-Aids-Konferenz vorgestellt; aufgrund einer recht kurzen Nachbeobachtungszeit wird unterschiedlich bewertet, ob er von seiner HIV-Infektion sicher geheilt ist. Zählt man ihn mit, handelt es sich beim zweiten Berliner Patienten um die siebte HIV-Heilung weltweit. Angesichts von weltweit rund 39 Millionen Menschen mit HIV-Infektion bleiben Heilungen extrem selten.
Über Stammzelltransplantationen gegen HIV
Das gleichzeitige Auftreten einer HIV-Infektion und einer Krebserkrankung, die mit einer Transplantation von Stammzellen eines anderen Menschen behandelt werden muss, ist selten. Eine solche sogenannte allogene Stammzelltransplantation ist ein äußerst komplexer Eingriff, das therapiebedingte Sterblichkeitsrisiko liegt bei rund zehn Prozent. Sie kommt deshalb nur bei schwerwiegenden Fällen zum Einsatz.