Digitale Zusammenarbeit bei Seltenen Erkrankungen
Seltene Erkrankungen sind gar nicht so selten: Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland sind insgesamt betroffen, doch von jeder einzelnen der geschätzt 8.000 verschiedenen Krankheiten treten meist nur wenige Fälle auf. Das hat zur Folge, dass es oft Jahre dauert, bis die Betroffenen die richtige Diagnose erhalten, eine wirksame Therapie fehlt in den meisten Fällen und Forschung ist aufgrund der geringen Fallzahlen nur beschränkt möglich.
Viele Universitätskliniken haben in den letzten Jahren auf der Basis des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) „Zentren für Seltene Erkrankungen“ gegründet, in denen Betroffene Hilfe finden. Am NAMSE-Bündnis sind die Bundesministerien für Forschung und Gesundheit sowie einige Selbsthilfegruppen beteiligt. Doch manch Seltene Erkrankung ist so selten, dass auch hier nur ganz wenige Fälle auftreten. Umso wichtiger ist es, die wenigen vorhandenen Daten zu einer Seltenen Erkrankung effizient zu nutzen. Und genau da setzt CORD-MI an. „Wir kümmern uns darum, dass die Strukturen der Medizininformatik-Initiative und andere Digitalisierungsfortschritte auch den Zentren für Seltene Erkrankungen an den Universitätskliniken zugutekommen“, sagt Dr. Josef Schepers, stellvertretender Leiter der Core Unit E-Health und Interoperabilität im Berlin Institute of Health (BIH) und Koordinator von CORD-MI. „Gerade bei medizinischen Diagnosen, die in ganz Deutschland vielleicht nur hundertmal vorkommen, kann die digitale Vernetzung äußerst hilfreich sein.“
Die Waisen der Medizin sichtbar machen
„In komplexen Systemen kann man nur verbessern, was man messen kann. Und hier stockt es bei den ‚Waisenkindern der Medizin‘ schon, weil sie mit den üblichen Diagnose-Codes nicht richtig gezählt werden können“, klagt Schepers. „Es ist dringend notwendig, dass die Seltenen Erkrankungen mit Orpha-Kennnummern in der normalen klinischen Versorgung differenziert dokumentiert werden, damit die Patientendaten standortübergreifend und datenschutzkonform genutzt werden können. Die angemessene Dokumentation und die digitale Vernetzung der Zentren für Seltene Erkrankungen sollen dabei helfen, die sogenannten ‚Orphan Diseases‘ sichtbar zu machen und damit die Diagnosestellung für die Betroffenen zu beschleunigen, adäquate Therapien zu entwickeln und die Forschung an Seltenen Erkrankungen zu fördern“, so Schepers weiter.
CORD-MI konzentriert sich auf eine Auswahl von Seltenen Erkrankungen, darunter die Mukoviszidose. „Unter den Seltenen Erkrankungen ist die Mukoviszidose relativ häufig. Entsprechend groß ist das Datenmaterial, das bereits über einen langen Zeitraum erfasst wurde. Eine perfekte Grundlage also, den Mehrwert standortübergreifender innovativer Datenanalysen aufzeigen zu können“, so Prof. Dr. Helge Hebestreit, beteiligter Kliniker vom Universitätsklinikum Würzburg. „Wir wollen den Mehrwert der Medizininformatik aber auch für Menschen mit besonders seltenen Seltenen Erkrankungen aufzeigen. So haben wir auch Erkrankungen im Fokus, an denen in Deutschland möglicherweise nur zehn Menschen leiden“, so Prof. Dr. Reinhard Berner vom Universitätsklinikum Dresden.
Einheitliche Dokumentation notwendig
Die Core Unit E-Health & Interoperabilität des BIH wirkt an Konzepten mit, die eine einheitliche Datenhandhabung in möglichst vielen Universitätskliniken vorsehen. „In fast allen deutschen Universitätskliniken werden im Rahmen der Medizininformatik-Initiative Datenintegrationszentren aufgebaut, die gemeinsam Konzepte entwickeln, wie Daten dokumentiert und gemeinsam datenschutzkonform genutzt werden können. Diese Chance sollte auch für Menschen mit Seltenen Erkrankungen genutzt werden“, umreißt Professorin Sylvia Thun, die Leiterin der Core Unit E-Health & Interoperabilität, die anstehende Aufgabe. Hierzu wollen die Beteiligten die FAIR-Prinzipien für wissenschaftliche Daten einführen: FAIR steht für Findable (auffindbar), Accessible (zugänglich), Interoperable (kompatibel) und Reusable (wiederverwendbar). Damit trägt CORD-MI auch zum Gesamtergebnis der Medizininformatik-Initiative bei, indem beispielsweise innovative und datenschutzkonforme Ansätze zur Verknüpfung und Auswertung von Daten erprobt werden.
Zusammenarbeit – auch europaweit
Natürlich sind nicht nur in Deutschland Daten zu Seltenen Erkrankungen schlecht verfügbar. Seltene Erkrankungen sind ein Paradebeispiel für einen Forschungsbereich, der stark davon profitieren wird, dass sich Betroffene, Forscher*innen und Ärzt*innen auf europäischer und internationaler Ebene untereinander vernetzen. So fördert die Europäische Kommission zum Beispiel die Einrichtung Europäischer Referenznetze für komplexe und Seltene Erkrankungen (ERNs) aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm der Europäischen Union Horizon 2020. „Wir werden uns mit CORD-MI natürlich darum bemühen, die Interoperabilität der Patientendaten auch europaweit sicherzustellen. Denn bei vielen Seltenen Erkrankungen können die Zusammenhänge und die Krankheitsverläufe nur verstanden werden, wenn wir uns über Grenzen hinweg zusammentun. Was wenige nicht schaffen, schaffen viele gemeinsam“, ist Josef Schepers überzeugt.
Über das Berlin Institute of Health (BIH)
Das Berlin Institute of Health (BIH) ist eine Wissenschaftseinrichtung für Translation und Präzisionsmedizin. Das BIH widmet sich neuen Ansätzen für bessere Vorhersagen und neuartigen Therapien bei progredienten Krankheiten, um Menschen Lebensqualität zurückzugeben oder sie zu erhalten. Mit translationaler Forschung und Innovationen ebnet das BIH den Weg für eine nutzenorientierte personalisierte Gesundheitsversorgung. Das BIH wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) sind im BIH eigenständige Gliedkörperschaften.
Zur Medizininformatik-Initiative (MII)
CORD-MI ist ein konsortienübergreifender Anwendungsfall innerhalb der Medizininformatik-Initiative (MII) mit dem Ziel, Forschung und Versorgung im Bereich der Seltenen Erkrankungen zu verbessern. Die MII will den Austausch und die Nutzung von Daten aus Krankenversorgung, klinischer und biomedizinischer Forschung über die Grenzen von Institutionen und Standorten hinweg ermöglichen, um Forschungsmöglichkeiten und Patientenversorgung zu verbessern. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert die MII zunächst bis 2021 mit rund 160 Millionen Euro. In den vier Konsortien DIFUTURE, HiGHmed, MIRACUM und SMITH arbeiten alle Einrichtungen der Universitätsmedizin in Deutschland an über 30 Standorten gemeinsam mit Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Krankenkassen sowie Patientenvertreterinnen und -vertretern daran, die Rahmenbedingungen zu entwickeln, damit Erkenntnisse aus der Forschung direkt die Patientinnen und Patienten erreichen können. Datenschutz und Datensicherheit haben dabei höchste Priorität.