Digitale Zusammenarbeit bei seltenen Erkrankungen
Zusammenarbeit ist bei seltenen Erkrankungen besonders wichtig: Um herauszufinden, welche Therapie einer Patientin oder einem Patienten am besten hilft, ist es – wie bei jeder anderen häufigen Erkrankung auch –wichtig, auf Erfahrungen zurückgreifen zu können. Doch was, wenn diese Erfahrungen an weit voneinander entfernten Orten gemacht wurden? Woher soll die Ärztin der Arzt oder in Berlin wissen, dass in München oder Köln Patientin oder ein Patient mit genau denselben Symptomen erfolgreich behandelt werden konnte? Und wie sollen Betroffene erfahren, wo es eine wirksame Behandlung für ihr Leiden gibt? „Dazu müssen wir die Zentren für Seltene Erkrankungen an den Universitätskliniken auch digital vernetzen“, sagt Josef Schepers, stellvertretender Leiter der BIH Core-Unit eHealth und Interoperabilität, der sich für einen „Use Case“ Seltene Erkrankungen in der Medizininformatik-Initiative des BMBF einsetzt. „Und außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Ärzte die Anzeichen der Krankheit, die Diagnose und die Behandlung in gleicher Form dokumentieren, damit die Kollegen an den anderen Zentren, aber auch die Patienten sie finden können, wenn sie danach suchen.“
Doch genau das ist nicht so einfach. Die seltenen Erkrankungen sind oft so selten, dass kein einheitlicher Name oder gar ein ICD-Code zur Abrechnung bei den Krankenkassen besteht. Die Ärzte nutzen oft unterschiedliche Bezeichnungen für Diagnosen und Symptomkomplexe, auch beeinflusst dadurch, worunter die Patientin oder der Patient am meisten leidet. Dazu kommt, dass die Datenerfassung oft in unterschiedlichen Systemen erfolgt, die gar nicht miteinander kompatibel sind. „Und wenn wir global denken, was bei einigen sehr seltenen Erkrankungen durchaus wünschenswert wäre, kommt die Sprachbarriere dazu“, sagt Sebastian Köhler, der am BIH die Juniorprofessur für Digitale Phänotypisierung innehat. Seine Gruppe beschäftigt sich damit, die Beschreibung von Symptomen und Krankheiten zu digitalisieren.
„Wenn ein Arzt oder eine Ärztin einen Patienten mit einer veränderten Gesichtsform vor sich hat, dann notiert er vielleicht „Mittelgesichtshypoplasie“. Ein anderer schreibt dafür „Unterentwicklung des Mittelgesichtspartie“ und der Forscher, der das Symptom bei Mäusen untersucht, spricht von Kurzschnäuzigkeit“, beschreibt Köhler das Problem. „Und dem ganzen liegt möglicherweise ein bestimmter Gendefekt zugrunde, der mit keiner der drei Beschreibungen in Zusammenhang gebracht wird.“ Sucht also der erste Behandler nach Informationen zu Mittelgesichtshypoplasie, findet er keine weiteren Fälle, obwohl es sie durchaus gibt. Dieses Problem möchte Sebastian Köhler nun durch eine einheitliche Dokumentation in digitaler Form ermöglichen. Darüber hinaus will er Informationen aus der Genomanalyse mit den Krankheitsdaten verknüpfen, um die Forschung an seltenen Erkrankungen zu unterstützen. Und schließlich arbeitet sein Team an einer Möglichkeit für Betroffene, selbst ihre Beschwerden in standardisierter Form ins Smartphone einzugeben und dadurch schneller Hilfe zu finden.
Josef Schepers wirkt an Konzepten mit, die eine einheitliche Dokumentation in möglichst vielen Universitätskliniken vorsehen. „In fast allen deutschen Universitätskliniken werden im Rahmen der Medizininformatik-Initiative Datenintegrationszentren aufgebaut, die nach streng kontrollierten datenschutzkonformen Regeln gemeinsam Datennutzungskonzepte entwickeln. Diese Chance sollte auch für Menschen mit Seltenen Erkrankungen genutzt werden“, umreißt Josef Schepers die anstehende Aufgabe. Erklärtes Ziel einer von ihm koordinierten Arbeitsgruppe mit Beteiligten von zahlreichen Standorten ist es, in Anlehnung an den Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen die sogenannten „Waisen der Medizin“ (Orphan Diseases) sichtbar zu machen, die Diagnose der Betroffenen zu beschleunigen, adäquate Therapien zu entwickeln und die Forschung an seltenen Erkrankungen zu fördern.