Charité-Studie in Nature: Wie Zellen mit zu vielen Chromosomen umgehen

In der Regel sind zu viele Chromosomen ein Problem. Sie stören die Entwicklung eines Organismus oder führen zu Krankheiten. Manche Zellen aber profitieren davon: Beispielsweise können sich Krebszellen oder krankmachende Hefepilze durch einen veränderten Chromosomensatz vor Arzneimitteln „schützen“. Wie es Hefepilzen gelingt, einen Chromosomen-Überschuss zu kompensieren, hat ein Forschungsteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin jetzt entschlüsselt. Die im Fachmagazin Nature* veröffentlichten Ergebnisse könnten neue Ansatzpunkte für die Behandlung von therapieresistenten Tumoren oder Pilzinfektionen liefern.

 

Eine gesunde menschliche Zelle hat exakt zwei Kopien von 23 Chromosomen, auf denen alle Erbinformationen gespeichert sind. Liegt durch einen Fehler bei der Zellteilung ein Chromosom in drei- oder mehrfacher Ausfertigung vor, ist es zu viel des Guten: Weil die auf dem vervielfachten Chromosom liegenden Gene insgesamt häufiger abgelesen werden, sammeln sich ihre Produkte – die Proteine – in großer Zahl an. Der Organismus wird dadurch in seiner Entwicklung gestört, beispielsweise bei Trisomien wie dem Down-Syndrom, oder ist gar nicht erst lebensfähig. Aneuploidien – so der Fachbegriff für die fehlerhafte Chromosomenzahl – sind deshalb ein häufiger Grund für Fehlgeburten.

Überraschenderweise gibt es aber auch Zellen und Organismen, die mit dem Überschuss an Genen umzugehen gelernt haben und daraus zum Teil sogar einen Vorteil ziehen. Manchen Krebszellen zum Beispiel gelingt es mit zusätzlichen Chromosomen besser, sich gegen Tumormedikamente zu wehren und trotz der Behandlung zu wachsen. Auch bei Hefen, also einzelligen Pilzen, finden sich Aneuploidien sehr häufig: Geschätzt jeder fünfte in der Natur vorkommende Stamm der als Bäcker- oder Weinhefe bekannten Spezies Saccharomyces cerevisiae hat einen veränderten Chromosomensatz.

Alle Proteine werden schneller ausgetauscht

Wie diese Zellen es schaffen, mit den überzähligen Chromosomen zurechtzukommen, ist seit Jahren Gegenstand der Forschung. Am Beispiel einer Hefespezies ist es einer Forschungsgruppe um Prof. Markus Ralser, Direktor des Instituts für Biochemie der Charité, nun gelungen, einen bisher unbekannten Kompensationsmechanismus aufzuklären. „Wir konnten nachweisen, dass natürlich vorkommende aneuploide Hefezellen die schädigende Proteinlast abpuffern, indem sie die Gesamtheit aller Proteine schneller austauschen“, sagt Markus Ralser.

Für die Studie verglichen die Forschenden „genetisch gesunde“ Hefestämme mit solchen, bei denen eine Aneuploidie im Labor induziert worden war, und weiteren, die aus verschiedensten Umweltnischen weltweit isoliert wurden und von Natur aus aneuploid waren. Im Gegensatz zu den Laborstämmen hatten diese sich also über einen längeren Zeitraum auf das Zuviel an Chromosomen einstellen können. Für jeden einzelnen der rund 800 untersuchten Stämme bestimmten sie die Aktivität der Gene sowie die Menge aller Proteine. Dafür griffen sie auf die Massenspektrometrie zurück, eine Methode, mit der hunderte Proteine aus einer einzigen Probe vermessen werden können. Die Analyse der riesigen Datenmengen ergab, dass die meisten der seit Langem aneuploiden Stämme die vom überzähligen Chromosom kodierten Proteine kompensiert hatten, deren Menge also eher der bei gesunden Hefen entsprach.

Das Team untersuchte anschließend, wie die Hefen dies erreichten. „Unsere Daten zeigen, dass das sogenannte Proteasom-System hochgefahren wird, also die zelluläre Recycling-Maschinerie aktiver ist“, erklärt Dr. Julia Münzner, Wissenschaftlerin am Institut für Biochemie der Charité und Erstautorin der Studie. „Zellen mit überzähligen Chromosomen laufen also auf Hochtouren, sie produzieren viel, bauen die Produkte aber auch überdurchschnittlich schnell wieder ab.“ Das senkt die Menge der überschüssigen Proteine, allerdings werden auch andere Proteine schneller umgesetzt. Die Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass die Zellen die nichtüberschüssigen Proteine auf anderem Wege stabilisieren, damit sie nicht allzu stark dezimiert werden.

Ein Ansatz gegen Arzneimittelresistenzen?

Die Forschenden hoffen, dass sich die neuen Erkenntnisse für die Behandlung von therapieresistenten Tumoren, aber auch Pilzinfektionen nutzen lassen. Denn wie Krebszellen können auch krankmachende Hefepilze wie Candida albicans mithilfe zusätzlicher Chromosomen gegen Arzneimittel resistent werden. Sind sie nicht mehr behandelbar, können Pilzinfektionen tödlich verlaufen.

„Denkbar wäre zum Beispiel, den Proteinabbau in den Zellen medikamentös zu entschleunigen, sodass sie wieder mit einer erhöhten Proteinlast zu kämpfen haben“, sagt Markus Ralser. „Möglicherweise lassen sich so Therapieresistenzen verhindern.“ Die Voraussetzung ist, dass Krebszellen und krankmachende Hefen ein ähnliches Prinzip anwenden wie Saccharomyces cerevisiae, um Aneuploidien zu tolerieren. Das herauszufinden, ist das nächste Ziel der Forschungsgruppe.

*Muenzner J et al. Natural proteome diversity links aneuploidy tolerance to protein turnover. Nature 2024 May 22. doi: 10.1038/s41586-024-07442-9

Über die Studie
Geleitet wurde die Studie von Prof. Markus Ralser und Prof. Judith Berman. Markus Ralser ist Einstein-Professor für Biochemie und leitet zusätzlich zum Institut für Biochemie der Charité eine Forschungsgruppe am Nuffield Department of Medicine an der Universität Oxford. Judith Berman ist Leiterin einer Arbeitsgruppe an der Shmunis School of Biomedical and Cancer Research der Universität Tel Aviv. Entstanden ist die Arbeit im Rahmen eines Synergy Grants des European Research Council (ERC), den beide Forschende zusammen eingeworben haben.