Auswertung der neurologischen Post-COVID-Ambulanz der Charité zeigt: Kognitive Beeinträchtigungen sind häufig!
Je länger die COVID-19-Pandemie dauert, desto mehr rücken auch mögliche Langzeitfolgen in den Fokus der Wissenschaft. Bei einer Dauer von mehr als drei Monaten spricht man von einem Post-COVID-Syndrom (PCS) gemäß der Definition der britischen NICE-Guidelines. Die WHO hat nun eine klinische Falldefinition [1] veröffentlicht, die anhaltende Fatigue, Kurzatmigkeit und Kognitionsstörung sowie 25 weitere häufige Symptome umfasst, die fluktuierend auftreten können.
Auch COVID-19-Patientinnen und -Patienten mit milden Verläufen leiden unter Langzeitfolgen. Ein aktuelles Review [2] evaluierte erstmals mittels einer systematischen Literaturrecherche kurz- und langfristige postakute Folgen von COVID-19 („postacute sequelae of COVID-19“/PASC). Im Ergebnis zeigte sich, dass sechs Monate nach der Akuterkrankung mehr als die Hälfte von über einer Viertelmillion COVID-19-Überlebenden an Spätfolgen litten. Am häufigsten waren eine verminderte Leistungsfähigkeit, pulmonale und neuropsychiatrische Symptome. Zu letzteren zählten allgemeine funktionelle Einschränkungen und verminderte Leistungsfähigkeit (44%), generalisierte Angststörung (29,6%), Konzentrationsstörungen (23,8%) und Fatigue und/oder Muskelschwäche (37,5%). Nach Ansicht des Autorenteams könnte die hohe Zahl an COVID-19-Folgeerkrankungen künftig in vielen Ländern die Kapazität der Gesundheitssysteme stark belasten.
Auch die in Deutschland erhobenen aktuellen Inzidenzen verheißen nichts Gutes: In einer aktuellen Studie [3] wurden die klinischen Befunde der ersten 100 Patientinnen und Patienten ausgewertet, die sich seit September 2020 in der neurologischen Post-COVID-Ambulanz an der Charité vorstellten. Die COVID-19-Diagnose war entweder durch eine PCR oder durch Antikörperbestimmung gesichert. Insgesamt 89% der Betroffenen hatten einen leichten COVID-19-Verlauf ohne stationäre Behandlung gehabt. Das mittlere Alter lag bei 45,8 (20–79) Jahren, die Mehrzahl der Betroffenen war weiblich (67%). Neben einem kognitiven Screening mit dem „Montreal Cognitive Assessment“ (MoCA) wurden weitere Fragebögen eingesetzt: die „Epworth Sleepiness Scale“ (ESS), das „Beck Depression Inventory Version I“ (BDI) und die „Fatigue Severity Scale“ (FSS).
Am häufigsten waren kognitive Beeinträchtigungen (72%); 30% der Patientinnen und Patienten mit kognitiven Defiziten erreichten weniger als 26/30 Punkte auf der MoCA-Skala. In diesen Fällen wurden weiterführende Untersuchungen veranlasst (zerebrale Bildgebung und Liquordiagnostik), deren Auswertungen in der Arbeit noch nicht enthalten sind.
Weitere häufige Symptome waren Fatigue (67%), Kopfschmerzen (36%) und persistierende Hyposmie (36%). Im Gegensatz zu der häufigen Fatigue-Symptomatik war eine exzessive Tagesmüdigkeit nur bei einem Drittel der Betroffenen vorhanden. Es folgten Myalgien (21%), Schwindel (20%) und verschiedene Schmerzsyndrome (17%). 5,5 % aller Patienten zeigten Symptome einer schweren Depression.
Dr. Christiana Franke, DGN-Expertin und Mitautorin des Papers, erklärte heute auf der Pressekonferenz des DGN-Kongresses: „Der Bedarf an neurologischer Versorgung beim Post-COVID-Syndrom ist groß, zumal die Patientenzahlen weiter steigen. Weitere Forschung zu den pathophysiologischen Mechanismen ist dringend erforderlich. Für die Betreuung Betroffener ist die Zusammenarbeit vieler Fachdisziplinen anzustreben, da eine kausale Therapie nicht absehbar ist und ein sinnvolles Procedere für den einzelnen Patienten etabliert werden muss.“ Auch das Angebot von Rehabilitationsbehandlungen für post-COVID-19 Patienten mit primär neurologischen Manifestationen sollte strukturiert werden, um Betroffenen hilfreiche Angebote zu machen, hob Franke hervor.
Insbesondere die hohe Zahl der Betroffenen mit kognitiven Einschränkungen werfe die Frage einer adäquaten Langzeitversorgung auf. Eine im Oktober in „JAMA Neurology“ [4] publizierte Auswertung von COVID-19-Patientinen und -Patienten, die unterschiedlich schwer an COVID-19 erkrankt gewesen waren, zeigte, dass in Folge 23% Gedächtnisprobleme aufwiesen, bei 18% die Verarbeitungsgeschwindigkeit reduziert war, bei 16% die exekutive Funktion und bei 15% der Sprachfluss vermindert war. Bei den schwer an COVID-19-Erkrankten traten die meisten dieser Probleme zwar häufiger auf als bei Betroffenen mit milden Verläufen, aber letztere waren nicht vor diesen kognitiven Einschränkungen gefeit.
Eine schwedische Studie [5] untersuchte, ob neurologische Probleme („brain fog“, Gedächtnisstörungen oder Fatigue) nach einer COVID-19-Erkrankung mit einer Erhöhung verschiedener Plasma-Biomarker einhergehen, die Schädigungen des zentralen Nervensystems anzeigen, wie Neurofilament-L (NF-L), saures Gliafaserprotein (GFAp) und der Wachstums-Differenzierungs-Faktor-15 (GDF-15). Interessanterweise waren diese nur in der akuten Krankheitsphase erhöht, normalisierten sich dann aber im Verlauf. Dennoch klagten 50% der Betroffen nach sechs Monaten noch über anhaltende neurologische Beschwerden, am häufigsten über Fatigue, „brain fog“ (und/oder Beeinträchtigungen der Kognition. Diese Symptome bestanden unabhängig von den ZNS-Biomarker-Konzentrationen in der Akutphase. Die Normalisierung der Biomarker im Verlauf bei allen Patientinnen und Patienten wird von den Autorinnen und Autoren so interpretiert, dass die neurologischen Post-COVID-19-Symptome eher nicht in Zusammenhang mit einer möglichen bleibenden ZNS-Schädigung stehen.
Welche pathophysiologischen Mechanismen jedoch ursächlich für das post-COVID-19 Syndrom sind, ist aktuell noch unklar. Eine endotheliale-mikrozirkulatorische Dysfunktion, eine anhaltende Inflammation und autoimmunologische Mechanismen werden diskutiert. Bis diese Ergebnisse vorliegen, erfolgt die Therapie primär symptomatisch.
„Systematische weitere Untersuchungen bei neurologischen Post-COVID-Symptomen sind erforderlich, um gezielte Therapieangebote etablieren zu können“ betont Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN, der auch an der Entwicklung der S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID [6] beteiligt war und die fachspezifische Leitlinie der DGN koordiniert (REF aktualisierte LL).