Adrenomed: Mit „precision medicine“ gegen Sepsis

In der gängigen Antikörper-Therapie bindet ein Antikörper zum Beispiel ein Entzündungshormon und blockiert so die Inflammation. Die Adrenomed AG aus Hennigsdorf dreht dieses Prinzip um: Ihr Anti-körper Adrecizumab dockt an das Hormon Adrenomedullin an, um dessen Hauptfunktion zu erhalten. So bekämpft Adrenomed vor allem die Sterblichkeit bei Sepsis – kann aber auch Krankheitsbilder the-rapieren, die von COVID-19 hervorgerufen werden.

 

An den Folgen einer Sepsis sterben pro Jahr allein in Deutschland 95.000 Menschen. Sie ist die häufigste Todesursache in Krankenhäusern und verantwortlich für rund 20 Prozent der Todesfälle weltweit. Ursachen einer Sepsis können etwa Bakterien-, Pilz- und Virusinfektionen, infizierte Wunden oder Verbrennungen sein. Auf diese Infektionen reagiert das körpereigene Abwehrsystem bei einer Sepsis über. In der Folge kommt es zu schweren Funktionsstörungen der inneren Organe, bei mindestens jedem vierten Patienten führt die Überreaktion des Körpers zum Tod. Ein septischer Schock – die schwerste Form der Sepsis – vermindert die Sauerstoffversorgung der Organe noch weiter und beschleunigt den tödlichen Prozess so um ein Vielfaches.

 

Sterblichkeit bei Sepsis: Suche nach Behandlungswegen

Während die Ursachen einer Blutvergiftung mit Antibiotika therapiert werden können, gibt es bislang keine Behandlung der wesentlichen Gründe für die Sterblichkeit bei Sepsis. Das ändert nun die Adrenomed AG, ein Biopharmazeutik-Unternehmen aus dem brandenburgischen Hennigsdorf. „Bis vor einigen Jahren habe ich bei der Brahms AG schwerpunktmäßig Biomarker entwickelt – etwa einen Bluttest, um eine Sepsis nachzuweisen“, sagt Dr. Andreas Bergmann, Co-Gründer und Chief Scientific Officer (CSO) der Adrenomed AG. Nach dem Verkauf der Brahms AG beschäftigte er sich tiefergehend mit Fragen der Sterblichkeit bei Sepsis.

 

Sepsis: Warum sterben manche Patienten, und andere nicht

„Nach einigen Fehlschlägen konnten wir ein Molekül identifizieren, das bei allen Menschen, die an einer Sepsis verstorben sind, anders war als bei denen, die überlebt haben“, sagt er und meint das Hormon Adrenomedullin sowie dessen Wirkung auf das Endothel. Diese ganz dünne Haut kleidet die innere Seite der Blutgefäße ein. Adrenomedullin stabilisiert die Verbindungen zwischen den Endothelzellen und wirkt so einer erhöhten Gefäßdurchlässigkeit entgegen. Bei Entzündungen setzt der Körper allerdings sehr viel Adrenomedullin frei – zu viel, sodass das Endothel löchrig wird. Proteine und Zellen, aber vor allem Flüssigkeit treten nun aus dem Gefäßsystem aus und sammeln sich außerhalb an, was zu Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe (Ödeme) und zu Stauungen führen kann. Schwerere Ödeme beeinträchtigen die Sauerstoffversorgung der Organe, die Sepsis tritt ein. „Neben der erhöhten Gefäßdurchlässigkeit kommt es bei einer Sepsis zu einer Weitung der Blutgefäße, der sogenannten Vasodilatation“, ergänzt Bergmann. „Das Endothel steuert diesen Prozess, indem es den umgebenden Zellen, zum Beispiel den weichen vaskulären Muskelzellen, signalisiert, sich zu entspannen“, sagt Bergmann. Das ruft einen Blutdruckabfall hervor, wodurch das Sauerstoffdefizit der Organe zusätzlich verstärkt wird. „Eine Kombination verschiedener Mechanismen treibt also die rapide Verschlechterung voran, die bei Personen mit Sepsis und septischem Schock häufig zu beobachten ist.“

Auf Basis dieser Erkenntnisse hat Bergmanns Team einen Lösungsansatz entwickelt, der die positiven Effekte von Adrenomedullin unterstützt, aber die für Sepsis-Patienten schädlichen ausschließt: den Antikörper Adrecizumab, der an das aktive Adrenomedullin innerhalb der Blutgefäße andockt. Das gebundene Hormon ist nun zu groß, um durch die Endothelbarriere zu diffundieren. Es bleibt in den Blutgefäßen eingeschlossen und kann sie so stabilisieren.

 

Plattformtechnologie aus Hennigsdorf

Als Diagnostiker und Arzneimittelentwickler verfolgt Bergmann die Strategie der „precision medicine“. Deren Ziel ist es, den Patienten in einem komplexen Geschehen genau zu steuern. Für die Sepsis-Therapie bedeutet das: Von Adrenomed kommt der Antikörper, maßgeschneiderte Biomarker etwa auf Adrenomedullin stammen aus Bergmanns Diagnostik-Ausgründungen Sphingotec und 4teen4 Pharmaceuticals.

„Wir haben eine Behandlung für das Organ ohne Doktor gefunden“, sagt Dr. Frauke Hein, Chief Business Officer bei Adrenomed „Die Fehlfunktion des Endothels ist nicht auf Sepsis beschränkt.“ Insbesondere gefäßindizierte Auslöser von Herzinsuffizienz dürften sich mit Adrecizumab therapieren lassen. Hinzu kommen – ganz aktuell – Krankheitsbilder, die durch COVID-19 hervorgerufen werden. „Adrenomed befasst sich mit einem Stoffwechselvorgang, der bislang nicht nachweisbar war, aber hochrelevant für die Therapie unterschiedlicher tödlicher Krankheiten ist“, betont Hein.

Entwickelt wird die Plattformtechnologie in Hennigsdorf. Wo früher die Schwerindustrie zuhause war, forschen heute zahlreiche Biotechnologie-Unternehmen. „Wir sind dem Land Brandenburg dankbar für die Unterstützung, die uns hier viel ermöglicht hat“, sagt Bergmann. Zudem finden seine Unternehmen in Hennigsdorf eine sehr gute Infrastruktur bei vergleichsweise niedrigen Mieten vor. Für die Anwerbung von qualifiziertem Personal ist hingegen vor allem die Nähe zu Berlin relevant. „Wir haben Kooperationspartner in allen Ecken der Welt. Heute spielen Standorte nur noch insofern eine Rolle, als dass sie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interessant sein müssen“, sagt Bergmann.

Die Bedingungen in Hennigsdorf haben Bergmann, Hein und rund 20 Kolleginnen und Kollegen vor Ort weit gebracht. In der sogenannten AdrenOSS2-Studie konnten die Sicherheit und die Verträglichkeit des Antikörpers an etwas mehr als 300 Patientinnen und Patienten nachgewiesen werden. „Adrecizumab wirkt. Deutlich mehr Sepsis-Patientinnen und Patienten, die das Präparat bekommen, überleben die Krankheit“, sagt Bergmann. Nun steht Adrecizumab kurz vor der dritten Studienphase. Adrenomed setzt alles daran, das Medikament zulassungsfähig zu bekommen.